Loles Villalobos, klinische Neuropsychologin am Europäischen Zentrum für Neurowissenschaften, erläutert in diesem Artikel den Einsatz von Dual-Tasking und neuen Technologien für die Neurorehabilitation bei erworbenen Hirnschädigungen.
Die Umsetzung von Neurorehabilitationsmaßnahmen, die verschiedene Prozesse einbeziehen, ermöglicht einen ganzheitlicheren Ansatz, der besser der Funktionsweise unseres Gehirns und dessen Erholung nach einer Hirnschädigung entspricht. Dank neuer Technologien können diese integrierten Aufgaben heute effektiv und motivierend für die Patient:innen durchgeführt werden. Dadurch erzielen wir bessere Ergebnisse im Rehabilitationsprozess.
Hirnverletzungen und Neurorehabilitation
Eine Hirnverletzung beeinträchtigt die Patient:innen meist in verschiedenen Funktionsbereichen, wobei motorische, kognitive, emotionale und verhaltensbezogene Fähigkeiten am häufigsten betroffen sind (Wilson et al., 2017). Eine solche Beeinträchtigung führt zu erheblichen Veränderungen im täglichen Leben der Patient:innen und ihrer Angehörigen (D’Ippolito et al., 2018).
In der Neurorehabilitation hat traditionell jede Berufsgruppe in ihrem eigenen Fachbereich interveniert. Physiotherapeut:innen, Ergotherapeut:innen, Logopäd:innen, Neuropsycholog:innen und andere haben oft einen ideal koordinierten und ergänzenden, jedoch unabhängigen Ansatz verfolgt. Das menschliche Gehirn arbeitet jedoch integriert, wobei verschiedene Prozesse miteinander verknüpft sind. So erfordert beispielsweise jede relativ komplexe motorische Aktivität eine angepasste kognitive Leistung, um so effizient wie möglich ausgeführt werden zu können.
Im Alltag führen wir eine Tätigkeit wie das Gehen nie isoliert aus. Wir denken gleichzeitig darüber nach, wohin wir gehen, wo wir hinmüssen, was wir am Zielort tun werden, oder unterhalten uns mit unseren Begleiter:innen. Ebenso müssen wir beim Kochen aufstehen, uns in der Küche bewegen, unsere Hände nutzen, um mit Lebensmitteln und Utensilien umzugehen, und gleichzeitig die verschiedenen Schritte des Rezepts planen. Wir erinnern uns daran, wo die Zutaten sind, welchen Schritt wir bereits gemacht haben und welcher als nächstes folgt.
Das Dual-Task-Paradigma
Diese Selbstverständlichkeit aus unserem Alltag müssen wir auf die Neurorehabilitation bei erworbenen Hirnschädigungen übertragen und in die Programme, Aktivitäten und Verfahren zur Integration verschiedener Prozesse einbeziehen. Vor diesem Hintergrund ist es in der Neurorehabilitation seit einigen Jahren üblich, das Dual-Task-Paradigma (Woollacott & Shumway-Cook, 2002) anzuwenden. Dabei müssen die Patient:innen im Rahmen ihrer Rehabilitation mehrere Aufgaben gleichzeitig und koordiniert ausführen, wobei in der Regel eine Aufgabe eine motorische und die andere eine kognitive Komponente beinhaltet.
Anpassung der dualen Aufgaben an das Profil der Patient:innen mit erworbener Hirnschädigung
Bei Patient:innen, die nach einer Hirnverletzung Schwierigkeiten beim Gehen sowie Probleme im Bereich der Aufmerksamkeit oder der Exekutivfunktionen haben, ist es üblich, Aktivitäten und Übungen durchzuführen, bei denen die Patient:innen in einer mehr oder weniger komplexen Umgebung laufen (die schrittweise verändert werden kann) und gleichzeitig kognitive Aufgaben erledigen. Dazu gehören Aufgaben wie das Zählen, wie oft der Therapeut eine bestimmte Geste macht oder ein Wort sagt, Rechenaufgaben oder Telefongespräche. Der Einsatz solcher dualen Aufgaben (Dual-Tasking) in der neurologischen Rehabilitation für Patient:innen mit erworbener Hirnschädigung hat sich als wirksam erwiesen (Kim et al., 2014; Park & Lee, 2019).
Manchmal arbeiten wir mit Patient:innen, die nach einer Hirnschädigung stark beeinträchtigt sind, und es könnte der Eindruck entstehen, dass diese Art von Aufgaben ungeeignet oder schwer durchführbar ist. Es gibt jedoch zahlreiche Möglichkeiten, diese Aufgaben anzupassen und zu variieren. Tatsächlich haben wir sie bei den meisten Patient:innen mit Hirnschädigungen erfolgreich eingesetzt.
Ein Fallbeispiel von erworbener Hirnschädigung nach einem Verkehrsunfall
Im Europäischen Zentrum für Neurowissenschaften (CEN), einem Zentrum für intensive Neurorehabilitation in Madrid, arbeiten wir derzeit mit einem Patienten mit erworbener Hirnschädigung, der nach einem sehr schweren Verkehrsunfall auf motorischer Ebene stark beeinträchtigt ist (zusätzlich zu kognitiven und emotionalen Folgeerscheinungen). Das derzeitige Ziel auf dieser Ebene ist es, mit so wenig Hilfe wie möglich stehen zu können. Aufgrund der Schmerzen in seinem Bein, die auf die Schwere der erlittenen Verletzung zurückzuführen sind, sowie der Anzahl der Brüche und der Zeit, die er in völliger Bettruhe verbracht hat, wird dies jedoch zu einer sehr komplexen und schwierigen Aufgabe für ihn.
Die gleichzeitige Durchführung einer kognitiven Übung hat in diesem Fall mehrere Vorteile: Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die kognitive Aufgabe, verringert die Konzentration auf den Schmerz und erhöht dadurch den Nutzen der motorischen Übung im Stehen. Beispielsweise könnte ein Patient alleine fünf oder zehn Minuten stehen und sich dabei auf seine Körperhaltung und die vergehende Zeit konzentrieren. Mit einer gleichzeitigen kognitiven Übung kann jedoch ein Patient mit Hirnschädigung diese Position über eine halbe Stunde lang beibehalten und dabei effektiv ausführen.
Testen Sie NeuronUP 15 Tage kostenlos
Entdecken Sie unsere Aktivitäten, erstellen Sie Sitzungen und arbeiten Sie remote mit Online-Sitzungen
Dual-Tasking und neue Technologien
Neue Technologien sind heutzutage unverzichtbare Hilfsmittel bei der Behandlung von Patient:innen mit erworbener Hirnschädigung. Im CEN verfügen wir über zahlreiche technologische Ressourcen, die den Patient:innen helfen und es ihnen ermöglichen, in ihrem Rehabilitationsprozess Fortschritte zu machen.
Zurück zu unserem Fallbeispiel: Der hirngeschädigte Patient ist noch nicht in der Lage, selbstständig zu stehen und sein gesamtes Gewicht auf den Beinen zu tragen. Mit einem Gerät wie dem Rysen (dem weltweit einzigen 3D-Gewichtsträgersystem, das Gleichgewicht und Gangart ermöglicht) kann das Gerät den gewünschten Prozentsatz des Gewichts des Patienten über einen Gurt tragen. Auf diese Weise lässt sich das Gewicht regulieren und schrittweise erhöhen, so dass der Patient immer mehr von seinem Gewicht tragen kann. Auf diese Weise können wir, während der Patient steht, eine zweite kognitive Aufgabe einführen, die an sein Leistungsniveau angepasst ist.
Kognitives und motorisches Training mit NeuronUP und Rysen
Darüber hinaus verwenden wir im Zentrum das Programm von NeuronUP bei einigen Patient:innen, die ein Training bestimmter betroffener kognitiver Prozesse benötigen. Seit einiger Zeit verwenden wir auch einen großen Touchscreen, der eine bessere Interaktion der Patient:innen mit dem Bildschirm, eine höhere Motivation bei der Nutzung, den Einsatz beider Gliedmaßen mit einem größeren Bewegungsumfang sowie Arbeiten im Stehen ermöglicht.
In dem oben erwähnten Fall haben wir, während der Patient mit dem Rysen stand, den Bildschirm mit den an seine Eigenschaften angepassten NeuronUP-Übungen vor ihn gestellt. Bei ihm ist es aufgrund seiner kognitiven Folgeerscheinungen aufgrund der Hirnschädigung wichtig, an den visuellen, aufmerksamkeitsbezogenen und exekutiven Funktionen zu arbeiten. In diesem Sinne ist eine sehr nützliche Übung das „Kopieren von Plänen„. Bei dieser Aktivität muss der Patient einen Modellplan mit einer Reihe von Kästchen betrachten und ihn reproduzieren, indem er die genauen Elemente an den entsprechenden Stellen platziert.
Wenn wir bewegliche Elemente einführen und die Anforderungen an komplexere Aufmerksamkeitsprozesse sowie das Arbeitsgedächtnis erhöhen wollen, sind Aktivitäten wie „Kronkorken“ für Patient:innen mit Hirnschädigung sehr interessant und motivierend. Bei dieser Aktivität bewegt sich eine Reihe von Kronkorken mit Zahlen über den Bildschirm und der Patient muss sie suchen und von der höchsten zur niedrigsten Zahl markieren. Auf diese Weise können wir auch an der Überwachung und der Kontrolle der Inhibition arbeiten.
Eine weitere motivierende Übung für den Patienten ist „Begriffe zuordnen„, bei der er Wortpaare entsprechend ihrer semantischen Beziehung zuordnen muss. Sie ermöglicht es uns, das logische Denken auf kognitiver Ebene und auf motorischer Ebene die Bewegung der oberen Gliedmaßen zu trainieren, da der Patient die Wörter über den Bildschirm ziehen muss, während er sie gedrückt hält.
Schlussfolgerungen
Auf diese Weise konnten wir hirngeschädigte Patient:innen dazu bringen, über einen viel längeren Zeitraum aufzustehen und Aktivitäten auszuführen, indem wir ihre Aufmerksamkeit von den Schmerzen weg und hin zu äußeren Anforderungen lenkten. Dies ermöglicht es uns auch, verschiedene motorische und kognitive Prozesse integriert zu trainieren, wodurch die Übungen alltagsnäher werden.
Die Neurorehabilitation von Patient:innen, die eine Hirnschädigung erlitten haben, ist ein Bereich, der sich ständig weiterentwickelt und fortschreitet. Die koordinierte und integrierte Arbeit der verschiedenen beteiligten Fachkräfte, die wissenschaftlich belegte Techniken und Instrumente sowie neue Technologien einsetzen, ermöglicht es uns, individuelle Programme zu entwickeln, die den Patient:innen helfen, Fortschritte zu machen.
Erfahren Sie noch mehr über
NeuronUP
Kostenlos testen
Die Plattform, die mehr als 3.500 Fachkräfte täglich nutzen
Referenzen
D’Ippolito, M., Aloisi, M., Azicnuda, E., Silvestro, D., Giustini, M., Verni, F., Formisano, R., & Bivona, U. (2018). Changes in Caregivers Lifestyle after Severe Acquired Brain Injury: A Preliminary Investigation. BioMed Research International, 1, 1–14. https://doi.org/10.1155/2018/2824081
Kim, G. Y., Han, M. R., & Lee, H. G. (2014). Effect of dual-task rehabilitative training on cognitive and motor function of stroke patients. Journal of Physical Therapy Science, 26(1), 1–6. https://doi.org/10.1589/jpts.26.1
Park, M. O., & Lee, S. H. (2019). Effect of a dual-task program with different cognitive tasks applied to stroke patients: A pilot randomized controlled trial. NeuroRehabilitation, 44(2), 239–249. https://doi.org/10.3233/NRE-182563
Wilson, L., Stewart, W., Dams-O’Connor, K., Diaz-Arrastia, R., Horton, L., Menon, D. K., & Polinder, S. (2017). The chronic and evolving neurological consequences of traumatic brain injury. The Lancet Neurology, 16(10), 813–825. https://doi.org/10.1016/S1474-4422(17)30279-X
Woollacott, M & Shumway-Cook, A. (2002). Attention and the control of posture and gait: a review of an emerging area of research. Gait Posture, 16: 1–14. https://doi.org/10.1016/S0966-6362(01)00156-4
Schreiben Sie einen Kommentar