Jesús M. Cortes, Professor bei Ikerbasque und am Biocruces-Bizkaia Institut für Gesundheitsforschung sowie Leiter der Abteilung für Forschung und Produktentwicklung von NeuronUP, erklärt in diesem Interview die Ergebnisse zur Studie der Vorhersage kognitiver Beeinträchtigungen mit NeuronUP, die in der angesehenen britischen Zeitschrift Journal of Neuropsychology veröffentlicht wurden.
Was sind die wichtigsten Ergebnisse der Studie?
Die Motivation der Studie bestand darin, zu verstehen, inwieweit die verschiedenen kognitiven Trainingsmaterialien, die von NeuronUP entwickelt wurden, genutzt werden könnten oder nicht, um das Ausmaß des kognitiven Abbaus ein Jahr nach der Verwendung von NeuronUP vorherzusagen.
Von den 203 verschiedenen kognitiven Trainingsmaterialien, die untersucht wurden, haben wir festgestellt, dass einige Materialien besser abschneiden als andere. Zum Beispiel zeigten die Materialien zum Training der Verarbeitungsgeschwindigkeit, der Aufmerksamkeit (selektiv, wechselnd oder anhaltend) und der Exekutivfunktionen eine Vorhersagekraft mit Bereichsgenauigkeiten über 0,89, was im Vergleich zu früheren Studien sehr hoch ist.
Außerdem haben wir bei spezifischeren Krankheitsbildern Unterschiede festgestellt, wie z.B. dass die selektive Aufmerksamkeit das Risiko für kognitiven Abbau nach einem Jahr bei Parkinson-Patient:innen gut vorhersagt, jedoch nicht bei Alzheimer-Patient:innen, wo die meisten vorhandenen Materialien den kognitiven Abbau nur moderat vorhersagen. Zudem haben wir Populationen mit Multipler Sklerose oder Down-Syndrom untersucht.
Auf der anderen Seite konnte durch diese Studie innerhalb von NeuronUP eine Dateninfrastruktur entwickelt werden. Diese sorgt dafür, dass alle Prozesse reibungslos ablaufen und es wurde eine spezielle Datenabteilung geschaffen. In dieser Abteilung gibt es eigenes Personal, das sich ausschließlich mit dem Thema Datenverarbeitung beschäftigt.
Warum wurde das Journal of Neuropsychology ausgewählt, um diese Ergebnisse zu veröffentlichen?
Das Journal of Neuropsychology ist eine Zeitschrift der British Psychological Society, einer der ältesten und angesehensten Organisationen für Psycholog:innen der Welt.
Gegründet im Jahr 1901 und mit über 60.000 Mitgliedern ist sie eine Berufsorganisation für Psychologinnen und Psychologen im Vereinigten Königreich, die eine breite Palette von Aktivitäten und Dienstleistungen für ihre Mitglieder organisiert, darunter Weiterbildung, Forschung und Förderung der Psychologie.
Sie setzt sich stark für die Förderung der Psychologie zum Wohle der Öffentlichkeit ein und arbeitet eng mit anderen Organisationen und Regierungsbehörden zusammen, um die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden im Vereinigten Königreich und weltweit zu verbessern.
Die British Psychological Society verwaltet mehrere renommierte wissenschaftliche Zeitschriften mit hohem Einfluss, die verschiedene Bereiche abdecken, darunter klinische Psychologie, Neurologie, Bildungspsychologie, Gesundheitspsychologie, Sozialpsychologie und Neuropsychologie. Sie ist zweifellos ein etabliertes Forum von hoher Qualität und Prestige für Fachkräfte auf dem Gebiet der Neuropsychologie.
Auf der anderen Seite nutzt unsere Forschung eine innovative Technologie in der Neuropsychologie, die auf Real-World-Daten basiert. Diese Herangehensweise hat uns jedoch in gewisser Weise stark herausgefordert. Ein Gutachter war besonders anspruchsvoll und streng, was die Veröffentlichung unserer Ergebnisse in dieser Zeitschrift erheblich erschwerte. Dennoch haben wir dieses Risiko bewusst in Kauf genommen. Unser Ziel war es, durch die Veröffentlichung in einer etablierten Fachzeitschrift die Akzeptanz unserer Methodik bei der Fach- und Forschungsgemeinschaft zu fördern.
Warum sind Real World Data eine bahnbrechende Technologie?
Zunächst möchte ich hervorheben, was Real World Data (RWD) ist und warum es sich von der typischen klinischen Forschungsmethodik unterscheidet. RWD bezieht sich auf Daten, die außerhalb der kontrollierten Umgebung einer klinischen Studie gesammelt werden, wie es in der täglichen klinischen Praxis oder in der traditionellen klinischen Forschung der Fall ist.
RWD kombiniert Daten aus elektronischen Gesundheitsakten, Online-Plattformen, Umfragen, Krankenversicherungen und anderen Quellen. Im Gegensatz zu Daten, die in kontrollierten klinischen Studien gesammelt werden, die oft wenig verallgemeinerungsfähig sind über die untersuchte Population hinaus, kann RWD eine präzisere und breiter anwendbare Einsicht darüber bieten, wie eine Behandlung oder Intervention in der realen Bevölkerung wirkt.
Die Nachteile sind, dass RWD sehr heterogen ist und den Einsatz agiler, nicht-traditioneller Technologien wie maschinelles Lernen oder künstliche Intelligenz erfordert.
RWD ist eine disruptive Technologie, weil sie den Zugang zu einer großen Menge an Daten und einer Vielzahl von Patient:innen ermöglicht, was zu einer besseren Charakterisierung der Populationen und einem tieferen Verständnis der Wechselwirkungen zwischen Behandlungen und Begleiterkrankungen führt.
Es kann auch helfen, neue therapeutische Anwendungsgebiete zu identifizieren und die Sicherheit sowie die Wirksamkeit von Behandlungen in einer Umgebung näher an der realen klinischen Praxis zu evaluieren.
Auf der anderen Seite stehen neue Herausforderungen wie eine höhere Komplexität bei der Datensammlung und -bereinigung, bei der Analyse der Daten selbst, geringere Kontrolle über Störfaktoren sowie eine Gesetzgebung, die nicht für RWD konzipiert wurde und wiederkehrende Probleme hinsichtlich Datenschutz und Datensicherheit mit sich bringt.
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Wie wurde der kognitive Abbau in der Studie gemessen?
Die kognitive Verschlechterung in unserer Studie wurde anhand der Leistungsdaten (performance) definiert, die während der Durchführung kognitiver Trainingsmaterialien von NeuronUP gesammelt wurden. Grundsätzlich können wir in Kohorten von mehreren Zehntausenden Teilnehmenden gut definieren, was normal ist und was eine Verschlechterung darstellt, indem wir einfach Perzentile in den Evaluationen der Patient:innen im Vergleich zur Population festlegen.
Die Leistung der Teilnehmenden messen wir anhand des NeuronUP Score, einer Punktzahl, die wir verwenden, um den Fortschritt der Patient:innen in NeuronUP zu messen. Dieser Score liegt zwischen 0 und 100, ist für jede:n Teilnehmenden unterschiedlich und wird durch eine Formel berechnet, die Treffer bzw. richtige Antworten, die für die Aufgabe benötigte Zeit und deren Schwierigkeitsgrad erfasst. Der NeuronUP Score ist ein neues quantitatives Maß, das die Darstellung der Leistung der Teilnehmenden vereinfacht und Vergleiche im Verlauf erleichtert. Er ermöglicht es, die longitudinalen Daten desselben Teilnehmers zu modellieren und präzise Verlaufskurven der individuellen Leistung zu erhalten.
Wie könnte die Studie zu einem besseren Verständnis der Ursachen von kognitiven Beeinträchtigungen beitragen?
Das ist eine sehr ambitionierte Frage, auf die wir noch keine Antwort wissen. Um die Ursachen für kognitiven Abbau zu erklären, müssten wir genetische und Umweltfaktoren untersuchen, die mit diesem Zustand zusammenhängen. Wir müssten auch die verschiedenen Formen von kognitivem Abbau, wie Demenz, sowie die Unterschiede in den zugrunde liegenden Ursachen jedes Typs, betrachten.
Zusätzlich sollten die Veränderungen im Gehirn sowie in der kognitiven und neuropsychologischen Funktion zwischen Personen mit und ohne kognitiven Abbau untersucht werden. Besondere Aufmerksamkeit sollte dabei auf spezifische Populationen gelegt werden, wie ältere Menschen oder Personen mit bestimmten zugrundeliegenden medizinischen Störungen, um spezifische Risikofaktoren für diesen Zustand zu identifizieren.
Auf der anderen Seite sollten wir auch die therapeutischen Interventionen und ihre Effektivität bei der Verbesserung oder Verhinderung von kognitivem Abbau untersuchen. Obwohl weitere Forschung in diesem Bereich erforderlich ist, stellt unser Artikel, der RWD und NeuronUP Score verwendet, einen guten Ausgangspunkt dar und unterstreicht die Notwendigkeit weiterer Studien in der Zukunft, die NeuronUP Score und spezifische Kohorten einbeziehen, um dieses Problem voranzubringen.
Wie könnten Ihre Erkenntnisse Ihrer Meinung nach genutzt werden, um die medizinische Versorgung von Menschen mit kognitiven Einschränkungen zu verbessern?
Quantitative Studien, die eine hohe Genauigkeit bei der Vorhersage von kognitivem Abbau in der Allgemeinbevölkerung bis zu 12 Monate im Voraus ermöglichen, sind äußerst nützlich. Sie helfen beispielsweise dabei, Personen frühzeitig zu identifizieren, die Gefahr laufen, kognitive Beeinträchtigungen zu entwickeln.
Dies würde ermöglichen, frühzeitig einzugreifen, um den Abbau zu verlangsamen. Es könnten individuelle Programme zur Prävention und Behandlung für Personen entwickelt werden, die ein höheres Risiko für kognitive Beeinträchtigungen haben. Zudem könnte der Fortschritt von Personen mit kognitivem Abbau im Laufe der Zeit überwacht werden, um die Wirksamkeit der Behandlungen zu beurteilen. Man könnte veränderbare Risikofaktoren identifizieren und Maßnahmen zur Risikoreduzierung für kognitiven Abbau entwickeln. Außerdem könnten Ärzt:innen unterstützt werden, fundierte Entscheidungen über die Behandlung von Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen zu treffen.
Welche Schritte werden unternommen, um innerhalb der Abteilung für Forschung und Produktentwicklung von NeuronUP weitere Forschung zu betreiben?
Mit dieser Abteilung haben wir im Jahr 2018 mit Unterstützung des Zentrums für Industrielle Technologieentwicklung Spaniens (CDTI) begonnen, das dem Ministerium für Wissenschaft, Innovation und universitäre Bildung untersteht, sowie der Wirtschaftsförderagentur La Rioja (ADER), neben Eigenfinanzierung und internen Mitteln von NeuronUP.
In dieser Zeit konnten wir viele Aspekte der Datensammlung, -verarbeitung und -überwachung optimieren, sowie deren Quantifizierung und Visualisierung verbessern, was von großem Wert für klinische Fachkräfte ist.
Zusätzlich haben wir begonnen, mit mehreren führenden nationalen und internationalen Forschungszentren in verschiedenen Projekten zusammenzuarbeiten. Dazu gehören die Erkennung und Verfolgung von Abweichungen (outliers) in der Allgemeinbevölkerung, die Validierung des NeuronUP Score mittels standardisierter neuropsychologischer Tests sowie die Klassifizierung der Leistungsentwicklung der Teilnehmenden anhand der NeuronUP Performance.
Ohne Zweifel werden wir in den kommenden Jahren neue Funktionen und Werkzeuge basierend auf den Daten für den Einsatz durch klinische Fachkräfte anbieten können.
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