Die Sprachentwicklungsstörung (SES oder engl. SLI) ist eine schwere und lang anhaltende neurologische Entwicklungsstörung, die den Erwerb und die Entwicklung der gesprochenen Sprache beeinträchtigt. Sie kann den Bereich des Verstehens oder den des Ausdrucks oder auch beide betreffen.
Sie wird als „heterogene“ Störung bezeichnet, weil keine SES genau gleich wie die andere ist. Das bedeutet, dass die Symptome von Kind zu Kind sehr unterschiedlich sind und nicht immer in der gleichen Form und Intensität auftreten.
Ebenso kann die Sprachstörung eine oder mehrere Komponenten der Sprache betreffen; es kann also phonetische und phonologische, semantische, morphosyntaktische und/oder pragmatische Störungen geben.
In diesem Beitrag erläutert Cristina Martínez Carrero vom D-letras-Zentrum Ursachen, Symptome und Komorbiditäten sowie Diagnose und Intervention.
Spezifische Schwierigkeiten nach Bereichen
Phonetisch-Phonologischer Bereich
Im phonetischen/phonologischen Bereich finden wir in der Regel Kinder mit unverständlicher Sprache, mit vielen phonologischen Vereinfachungsfehlern, multiplen Dyslalien und Schwierigkeiten bei der auditiven Diskrimination.
Semantischer Bereich
Im semantischen Bereich gibt es Kinder mit einem reduzierten Wortschatz bzw. mit Schwierigkeiten beim Zugriff auf den Wortschatz. Sie kennen zwar die Wörter, aber es fällt ihnen schwer, sie abzurufen. Aus diesem Grund verwenden sie oft sehr allgemeine Wörter und Umschreibungen. Sie haben auch große Schwierigkeiten, etwas Abstraktes auszudrücken und zu verstehen, also alles, was nicht in einen Kontext eingeordnet werden kann. Zudem fällt es ihnen schwer, neue Wörter zu lernen.
Morphosyntaktischer Bereich
Der morphosyntaktische Bereich ist in der Regel am stärksten betroffen; Kinder neigen dazu, einfache Sätze mit wenigen Elementen zu verwenden, die im Allgemeinen schlecht strukturiert sind. Diese haben häufig mit Konkordanzfehler und enthalten falsch konjugierte Verben, fehlende Präpositionen, Pronomen und andere Fehlern. Wenn der morphosyntaktische Bereich nicht betroffen ist, handelt es sich nicht um eine SES.
Pragmatischer Bereich
Der pragmatische Bereich ist bei Menschen mit einer SES immer beeinträchtigt. Es fällt ihnen schwer, beim Spielen soziale Beziehungen aufzubauen und die Regeln zu verstehen und einzuhalten. Darüber hinaus haben sie Schwierigkeiten, emotionale Zustände zu verstehen und zwischenmenschliche Probleme zu lösen. Dadurch fällt es ihnen schwer, Interferenzen zu ziehen, d. h. alles zu verstehen, was nicht wörtlich und/oder kontextbezogen ist, wie z. B. Ironie, Doppelbedeutungen, Metaphern, Witze usw. All dies prägt die Art und Weise, wie sie mit anderen in Beziehung treten.
Alle oben genannten Schwierigkeiten lassen sich nicht auf eine andere Störung oder Pathologie zurückführen oder damit in Verbindung bringen, sodass Hörverlust, Hirnschäden, ein niedriger IQ, motorische Defizite, soziale und umweltbedingte Faktoren oder Entwicklungsstörungen als Ursachen ausgeschlossen werden können (Leonard, 1998).
Von der Sprachentwicklungsstörung betroffene Entwicklungsbereiche
SES bzw. SLI ist ein relativ junger Begriff, der in kurzer Zeit viele Namensänderungen erfahren hat, die bekannteste ist „Dysphasie“. In der DSM-5-Klassifikation fällt der Begriff „spezifisch“ aus „Specific Languaje Impairtment, SLI“ weg und es wird der Begriff „Language Disorders“ verwendet, was wir als „Sprachstörung“ innerhalb der Kategorie „Kommunikationsauffälligkeiten“ bezeichnen.
Die Sprachentwicklungsstörung unterteilt sich wiederum in zwei Typen: Zum einen gibt es den phonologisch-syntaktischen Typ, zum anderen den lexikalisch-syntaktischen Typ.
Im Sachverständigenausschuss besteht noch kein eindeutiger Konsens über die am besten geeignete Terminologie für die Sprachstörung. Viele scheinen jedoch der Meinung zu sein, dass „spezifisch“ ein etwas unpassender Begriff ist, da die Hauptbeeinträchtigung von Kindern mit SES zwar die sprachliche Dimension ist, aber auch viele andere Entwicklungsbereiche betroffen sind, wie z. B.:
- Arbeitsgedächtnis
- mentale Fähigkeiten
- Hörvermögen
- exekutive Funktionen
- motorische Kontrolle
- geteilte Aufmerksamkeit
- soziale Entwicklung
- Verhalten
- Schulleistung
- Selbstverständnis
Ursachen der Sprachentwicklungsstörung
Die Ursachen der Störung sind noch unbekannt, aber neuere Studien bestätigen die Bedeutung der genetischen Belastung: 50 bis 70 % der Kinder mit SES haben mindestens ein Familienmitglied mit der gleichen Störung. Darüber hinaus wurden Veränderungen im FOXP2-Gen, dem sogenannten Sprachgen, festgestellt.
Symptome der Sprachentwicklungsstörung
Die Prävalenz von SES liegt bei 2-7 % aller Kinder, mit einem Verhältnis von 2:1/3:1 für Jungen. Es handelt sich um eine schwerwiegende und anhaltende Störung, die den Spracherwerb von Anfang an beeinträchtigt, sich über die gesamte Kindheit und Jugend fortsetzt und im Erwachsenenalter erhebliche Folgeschäden hinterlassen kann. Eine frühzeitige Erkennung und Intervention ist daher von entscheidender Bedeutung.
Bestimmte Warnzeichen sollten beachtet werden, sobald sie bemerkt werden. Man sollte Mythen und Legenden wie „er/sie wird schon sprechen“, „er/sie ist noch zu klein“, „jedes Kind hat seinen eigenen Rhythmus“ usw. vermeiden. SES erscheint immer als eine Verzögerung im Spracherwerb. Das bedeutet nicht, dass alle Spätsprechenden am Ende eine spezifische Sprachstörung haben, aber alle Menschen mit SES waren Spätsprechende.
Oft beginnen die Kinder später mit dem Sprechen und im Allgemeinen ist ihr Wortschatz sehr begrenzt.
- Wenn sie mit 2 Jahren nicht mindestens 50 Wörter benutzen und von diesen 50 Wörtern nicht 20 % Verben sind, ist dies ein deutliches Anzeichen für eine SES. Das gilt auch für Kinder, die in diesem Alter keine Zwei-Wort-Kombinationen bilden.
- Mit 3 Jahren können sie zwar eventuell sprechen, doch ist ihre Sprache unverständlich, ihre Sätze haben teilweise 3 Wörter und weisen phonetische und phonologische Fehler auf. Sie haben Schwierigkeiten beim Verstehen von W-Sätzen (was, wie, wer etc.).
- Mit 4 Jahren bilden sie nur Sätze mit höchstens 3 Wörtern, benutzen keine Adjektive und Pronomen, haben einen begrenzten Wortschatz und erzählen wenig bis gar nicht.
- Mit 5 Jahren sprechen sie grammatikalisch falsche Sätze und haben Schwierigkeiten, sich beim Erzählen an Wörter zu erinnern.
Dies sind Warnzeichen, die auf mögliche Sprachprobleme hinweisen können. Die Tatsache, dass ein Kind einige dieser Kriterien erfüllt, bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass eine SES-Diagnose gestellt wird.
Diagnose und Intervention bei Kindern mit SES
Frühzeitige Beurteilung, Diagnose und Intervention sind für die Entwicklung von Kindern mit SES von entscheidender Bedeutung.
Einerseits ist die Diagnose sehr komplex und wirft viele Probleme auf, vor allem in jungen Jahren.
- Vor dem Alter von 3 Jahren ist es schwierig festzustellen, ob die Schwierigkeiten beim Sprechen auf eine Sprachverzögerung oder eine Sprachstörung zurückzuführen sind.
- Mit 4 Jahren kann man bereits von einer möglichen SES sprechen.
- Mit 5 Jahren wird die Diagnose in der Regel bestätigt.
Man sollte nicht warten, bis sich die Diagnose bestätigt, sondern den Anzeichen Beachtung schenken, sobald sie entdeckt werden. Man sollte daran denken, welche großen Auswirkungen diese Störung auf das schulische, persönliche und emotionale Leben hat, und das nicht nur im frühesten Kindesalter.
Wenn die Kinder in die Grundschule kommen, kompensieren sie diese Schwierigkeiten. Man könnte sagen, dass die Symptomatik weniger deutlich bzw. sichtbar wird, vor allem gegen Ende der Grundschulzeit. Da sie in der Lage sind, sich in einer förmlicheren und ausgefeilteren Sprache zu verständigen, kann man zu der falschen Annahme kommen, dass sie ihre Sprachschwierigkeiten überwunden haben. Aber in der Regel ist das nicht der Fall und sie werden weiterhin Schwierigkeiten mit dem Wortschatz haben, ihre Ausdrucksweise ist anders und sie haben Schwierigkeiten beim Erzählen sowie beim Vorbringen kohärenter Gedankengänge. Außerdem erzählen sie häufig kürzere Geschichten mit weniger Haupt- und Nebengedanken, die zeitlich schlecht aneinandergereiht sind.
Zudem haben die Kinder in der Regel Lernprobleme, insbesondere beim Lesen und Schreiben sowie beim Erlernen der Mathematik, da sie abstraktere Inhalte nicht so gut verstehen und erfassen können. Ihre schulischen Leistungen sind auf allen Stufen, einschließlich der Sekundarstufe, beeinträchtigt.
Komorbidität der Sprachentwicklungsstörung
Viele Menschen mit einer SES weisen eine Komorbidität mit anderen Störungen wie Legasthenie, Dyskalkulie, Dysgraphie, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, Störungen der sozialen Interaktion usw. auf.
Eine Sprachentwicklungsstörung gilt als sonderpädagogischer Förderbedarf. Wenn eine große Diskrepanz hinsichtlich des Lehrplans besteht (1,5-2 Jahre), kann es sein, dass die Lerninhalte erheblich angepasst werden müssen.
Wenn Sie nach der Lektüre dieses Artikels noch Fragen haben, wenden Sie sich bitte an eine erfahrene Fachkraft, die Sie beraten und Ihnen weiterhelfen kann.